Gerald Stourzh und die Geschichte der Menschenrechte und der Demokratie

Was die moderne Demokratie historisch ausmacht, wie eng sie nicht nur mit politischen Teilhaberechten sondern auch mit den Menschenrechten zusammenhängt, mit Rechtsstaatlichkeit, Rechtsschutz für jeden einzelnen und jede einzelne – dies hat kaum ein anderer Historiker so gründlich und überzeugend herausgearbeitet wie Gerald Stourzh. Die Geschichte der modernen Demokratie beschäftigt Gerald Stourzh schon seit Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn. In seiner Dissertation untersuchte er Frühformen der Repräsentativverfassung im Alten Österreich: Die Entwicklung der ersten Kammer in der österreichischen Verfassung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1848 bis 1861.[1] Während seiner Jahre an der Universität Chicago und später an der Freien Universität Berlin befasste er sich dann vor allem mit den Anfängen des republikanischen Denkens in den Vereinigten Staaten von Amerika. Aus seinem ersten wissenschaftlichen Aufsatz zum Thema, Reason and Power in Benjamin Franklin's Political Thought (1953), ging ein Jahr später sein preisgekröntes Buch "Benjamin Franklin and American Foreign Policy" hervor. Es machte Gerald Stourzh in der amerikanischen Geschichtswissenschaft auf einen Schlag bekannt und wurde 1964 an der Universität Wien als Habilitationsschrift angenommen. Dem folgte sein lange gereiftes, schließlich in Princeton fertiggestelltes Buch "Alexander Hamilton and the Idea of Republican Government" (1970).

In Wien, wohin er 1958 aus Chicago und 1969 aus Berlin zurückgekehrt war, erweiterte Gerald Stourzh seine Forschungen zur Geschichte der Menschenrechte und der Demokratie um zwei bedeutende Gesichtspunkte: Zum einen übertrug er seine Beschäftigung mit Gleichberechtigung und Rechtsschutz durch Höchstgerichtsbarkeit vom amerikanischen auch auf das österreichische Beispiel. Zahlreiche Studien gipfelten schließlich in seinem Standardwerk "Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918" (1980/1985).

Zum anderen nahm Gerald Stourzh schon in den 1960er Jahren mit seinen Forschungen Fragestellungen der Historischen Komparatistik und des Transfers von Rechtsdiskursen auf. "Montesquieus Begriff der 'vertu' und die Anfänge der Vereinigten Staaten von Amerika" (1965), "Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert" (1975), "Zur Konstitutionalisierung der Individualrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution" (1976/1979), "Grundrechte zwischen Common Law und Verfassung. Zur Entwicklung in England und den nordamerikanischen Kolonien im 17. Jahrhundert" (1981), "Die Entwicklung der Rede- und Meinungsfreiheit im englischen und amerikanischen Rechtsraum" (1986), "Alexis de Tocqueville und das Werteproblem in der modernen Demokratie" (1995), "The Modern State: Equal Rights. Equalizing the Individual's Status and the Breakthrough of the Modern Liberal State" (1996), "Liberal Democracy as a Culture of Rights – England, the United States, and Continental Europe" (1999), "Penser l’égalité. Cinq notions d’égalité chez Tocqueville" (2005): Diese Auswahl von Titeln meist sehr umfangreicher Aufsätze zeigt, wie nicht nur seine Jahre in Chicago und Berlin sondern auch sein Studiensemester in Clermont-Ferrand 1949 und das Studienjahr in Birmingham 1949/50 nachwirkten. Immer wieder aufs Neue schritt und schreitet Gerald Stourzh auch von Wien aus den Horizont seiner zweiten geistigen Heimat aus: den nordatlantischen Raum, allen voran die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich.

Mit diesen Vergleichsmöglichkeiten vor Augen untersuchte und untersucht Gerald Stourzh auch stets Österreich – in das rechtzeitig zurückzukehren, solange er dort wieder Fuß fassen konnte, ihm seinerzeit wichtiger gewesen war als ein Ruf nach Berkeley – und Deutschland. Erfahrungen mit Deutschland haben sein Leben vielfach geprägt, positiv, aber auch bitter: die Einverleibung Österreichs, das nationalsozialistische Unrecht und dann die Teilung Deutschlands. Noch bevor Gerald Stourzh sie in Berlin hautnah miterlebte, hatte er zu erforschen begonnen, wie die deutsche Teilung jahrelang auch die Zukunft des befreiten Österreich in Frage stellte. Einer breiteren Öffentlichkeit ist Gerald Stourzh hierzulande denn auch als Historiker des Staatsvertrags von 1955 bekannt sowie der Entwicklung des Österreichbewusstseins seit Mitte des 19. Jahrhunderts.

Internationale Beachtung findet Gerald Stourzh mindestens so sehr mit seinen Forschungen zur Geschichte der Menschenrechte und der Demokratie – nicht nur im Fach Geschichte, sondern auch im transdisziplinären Rahmen der Politik- und der Rechtswissenschaften,[2] in deren Horizont er seine historische Forschung "zwischen Macht- und Rechtsgeschichte"[3] betreibt. Eine Reihe seiner wichtigsten Arbeiten dazu sammelte er 1989 in einem Buch unter dem Titel "Wege zur Grundrechtsdemokratie" und vertiefte seine Analyse 2015 weiter mit dem Essay "Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung". "Isonomie", ein altgriechischer Begriff aus dem Umfeld von "Demokratie", bedeutete rechtliche Gleichstellung, sowohl allgemein als auch bei der "Innehabung von politischer Macht". Stourzh hält "Isonomie" daher auch für besonders geeignet, um die beiden Angelpunkte einer modernen "Gleichberechtigungsordnung" in einem Begriff zu erfassen: das gleiche "Recht zur politischen Gestaltung" und gleiche "Menschenrechte als durchsetzungsfähige[n] Rechtsbestand".[4] In der modernen Demokratie sei es allein mit der "Teilhabe an der Staatswillensbildung mittels des allgemeinen gleichen Stimmrechts für Männer und Frauen" eben nicht getan, selbst wenn sie meist im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Genauso wichtig seien drei weitere, historisch tiefer wurzelnde Elemente der modernen Demokratie, um deren Erforschung sich Gerald Stourzh besonders verdient gemacht hat: erstens "die allgemeine Rechtsfähigkeit", zweitens "die Ausstattung der Person mit Grundrechten einschließlich eines Instrumentariums des Rechtsschutzes und zumal des Grundrechtsschutzes", drittens der "Primat des Individuums gegenüber kollektiven 'Ganzheiten'".[5]

Unter dem Titel "Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert" hielt Gerald Stourzh 1969 seine Antrittsvorlesung an der Universität Wien. 28 Jahre später spannte er in seiner Abschiedsvorlesung "Menschenrechte und Genozid" den Bogen vom alteuropäischen "Welt- und Rechtsordnungsprinzip" der "Abstufung" bis zur "Renaissance des Menschenrechtsdenkens nach 1945" und stellte der "Angleichung der Rechtsfähigkeit" ab Ende des 18. Jahrhunderts – an anderer Stelle sprach er vom "Tocqueville-Moment der westlichen Geschichte"[6] – die "neue Mediatisierung des Individuums" ab der Wende zum 20. Jahrhundert und den "Prozeß der Rechtszerstörung als Voraussetzung des Genozids" im Nationalsozialismus gegenüber.[7]

Die Gegenwart sieht Gerald Stourzh kritisch. Gewiß, die Menschenrechte haben "durch die Diskriminierungsverbote unzähliger internationaler, supranationaler und nationaler Rechtsnormen konkretisiert, und durch zahlreiche 'Non-Governmental Organisations' im Bewußtsein der Weltöffentlichkeit verankert, in den letzten Jahrzehnten eine Gestalt angenommen wie nie zuvor in der Geschichte".[8] Doch fährt Gerald Stourzh fort: "Noch ist es so. Ist es noch so?"[9] Zunehmend gebe es Grund zu Zweifel und Besorgnis, denn "durch die Menschenrechtsvorstellung der Gegenwart gehen", wie Gerald Stourzh feststellt, "Risse", und "auch innerhalb des Wertbewußtseins in Europa gehen [sie] tief".[10]

Gerald Stourzh kritisiert vor allem "die Wiederkehr des Ethnischen"[11] und einen "Kulturrelativismus, der dem Menschenrechtsdenken selbst nur eine relative, kulturell eingegrenzte Wertigkeit zugestehen will".[12] "Die Frage ist zu stellen", so Gerald Stourzh, "wie lange ein juristischer 'Überbau' des Menschenrechtsschutzes, sehr entwickelt, sehr verfeinert, institutionell gut abgestützt, wirken kann, wenn die ethischen Überzeugungen, die nach 1945 so stark waren, einer längerfristigen Erosion ausgesetzt sind".[13] Denn auf diese Überzeugungen, diese Werthaltungen – so schon Montesquieu, Hamilton und Tocqueville, wie Gerald Stourzh gezeigt hat – kommt es an: auf den Sinn für Freiheit und Gleichheit sowie, ganz besonders, auf das "Rechtsgefühl" (Jacob Burckhardt).[14] Daher mahnt Gerald Stourzh: "Die Menschenrechte sind, entgegen manchem Anschein, kein mächtiger Baum mit tiefen Wurzeln; sie sind eine kostbare, eher flachwurzelnde Pflanze. Konstante und umsichtige Pflege ist das Gebot der Stunde."[15]

Die Geschichte der Menschenrechte und der Demokratie – mit dem Blick auf die gesamte Neuzeit: von der Vormoderne bis zur Gegenwart − bleibt aktuell. Mit den Gerald Stourzh-Vorlesungen zur Geschichte der Menschenrechte und der Demokratie will die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien neue Forschungen auf diesem Gebiet zur Diskussion zu stellen und dabei die Maßstäbe heranziehen, für die der Name Gerald Stourzh in der Geschichtsforschung steht: Präzision, Seriosität, Internationalität, Transdisziplinarität, analytische und historische Tiefenschärfe.

Thomas Angerer, Birgitta Bader-Zaar, Thomas Fröschl, Margarete Grandner

 

[1]  Diese wie alle folgenden Titel finden sich im Werkverzeichnis von Gerald Stourzh. Zur besseren Lesbarkeit werden im Folgenden nur wörtliche Zitate belegt.

[2] Eines seiner Ehrendoktorate wurde Gerald Stourzh von der juridischen Fakultät der Universität Graz verliehen.

[3] Gerald Stourzh, Menschenrechte und Genozid. In: Heinz Schäffer, Walter Berka, Harald Stolzlechner, Josef Werndl (Hg.), Staat – Verfassung – Verwaltung. Festschrift anläßlich des 65. Geburtstages von Prof. DDr. DDr. h. c. Friedrich Koja (Wien 1998) 135-159, hier 136; Neudruck in überarbeiteter Form in: Ders., Spuren einer intellektuellen Reise. Drei Essays (Wien/Köln/Weimar 2009), 103-155.

[4] Gerald Stourzh, Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung (Wien/Köln/Weimar 2015) 20.

[5] Gerald Stourzh, Zur Einführung. In: Ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institu­tionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates (Studien zu Politik und Verwaltung 29, Wien/Köln/Graz 1989) XIf.

[6] Gerald Stourzh, Traces of an Intellectual Journey. In: Ders., From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America (Chicago/London 2007) 23 (mit Fn. 53); dt. Übers.: Spuren einer intellektuellen Reise. In: Ders., Spuren einer intellektuellen Reise. Drei Essays, 13-59.

[7] Stourzh, Menschenrechte und Genozid, 135, 140, 147, 156.

[8] Gerald Stourzh, "Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt". In: Hedwig Kopetz, Joseph Marko and Klaus Poier (Hg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation [Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag] (Studien zu Politik und Verwaltung 90/I, Wien/Köln/Weimar 2004) 183-196, hier 195f.

[9] Ebd., 196. Siehe schon: Stourzh, Menschenrechte und Genozid, 157.

[10] Gerald Stourzh, Begründung und Bedrohung der Menschenrechte. Vortrag im Rahmen der Feierlichen Sitzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am 17. Mai 2000 (Wien 2000) 16.

[11] Ebd., 17.

[12] Gerald Stourzh, Wurzeln und Perspektiven einer personalen Grundrechtspolitik. In: Erhard Busek, Andreas Khol, Heinrich Neisser (Hg.), Politik für das dritte Jahrtausend. Festschrift für Alois Mock zum 60. Geburtstag (Graz 1994) 114. Vgl. Ders., Menschenrechte und Genozid, 158f, und: Ders., Begründung und Bedrohung der Menschenrechte, 15 und 17f.

[13] Stourzh, Begründung und Bedrohung der Menschenrechte, 18.

[14] Gerald Stourzh, Das liberale Erbe in einer nachliberalen Ära [1974]. In: Ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, 369.

[15] Stourzh, Begründung und Bedrohung der Menschenrechte, 18.